Ziel der Grounded-Theory-Methodologie ist die Entwicklung einer in den Daten gegründeten bzw. verankerten (grounded) Theorie mittlerer Reichweite. In einem abwechselnden und sich wiederholenden Prozess der Datenerhebung und -analyse werden sukzessive Kategorien gebildet und miteinander in Beziehung gesetzt und so letztlich zu einer Theorie verdichtet.
Die Grounded-Theory-Methodologie wurde von Barney Glaser und Anselm Strauss zunächst gemeinsam in den 1960er Jahren erarbeitet[1] und basiert auf deren Studie zu „Interaktion mit Sterbenden“[2]. In der Folge wurde sie in Abgrenzung zueinander von Glaser[3] und Strauss[4] einzeln weiterentwickelt und später von ihren „Schülerinnen“ – insbesondere Kathy Charmaz[5] und Adele Clarke[6] ausdifferenziert. Mithin ist heute von einer „Grounded-Theory-Methodologie im Plural“[7] die Rede.
Die charakteristischen Grundüberlegungen der Grounded-Theory-Methodologie sind trotz vieler Weiterentwicklungen indes beständig: Hierzu gehört vor allem der kontinuierliche Wechsel von Feldarbeit (Datenerhebung) und Reflexion (Datenanalyse und Theoriebildung). Zu ihren wesentlichen Merkmalen gehören das Konzeptualisieren, das permanente Vergleichen, das Theoretical Sampling und das Memo Writing.
Im Zentrum der Grounded-Theory-Methodologie steht das Kodieren. Dabei geht die Grounded-Theory-Methodologie unter Anwendung verschiedener Kodierarten über eine bloße Deskription hinaus und zielt darauf, aus Daten gehaltvolle Konzepte zu entwickeln.
Das zentrale Vorgehen der Grounded-Theory-Methodologie lautet, während des gesamten Forschungsprozesses immer wieder und auf allen Ebenen Vergleiche vorzunehmen: auf der Ebene der Fallauswahl, der Daten, der generierten Kodes und der daraus gebildeten Kategorien.
Die Auswahl der zu erhebenden Fälle und Materialien erfolgt in der Grounded-Theory-Methodologie sukzessive nach aus den Daten entwickelten theoretischen Gesichtspunkten. Im Idealfall beginnt die Analyse bereits nach der ersten Datenerhebung.
Als sehr bedeutsam wird das Schreiben von Memos betrachtet. Diese dienen der Ideenentwicklung, Strukturierung, Reflexion sowie Konzeptbildung und begleiten den gesamten Forschungsprozess (Planung, Erhebung, Auswertung).
In der Grounded-Theory-Methodologie gibt es verschiedene Vorschläge von Kodierverfahren[8]. Im deutschsprachigen Raum ist nach wie vor das Vorgehen sensu Strauss und Corbin[9] weit verbreitet. Hierbei lässt sich der eigentliche Analyseprozess in drei Kodierphasen gliedern: das offene, das axiale und das selektive Kodieren.
Begonnen wird mit dem offenen Kodieren. Dabei werden die Daten kleinteilig analysiert, indem sie in Sinneinheiten zergliedert und auf ihren konzeptuellen Gehalt hin interpretiert werden. Hierzu werden diesen Sinneinheiten Kodes zugeordnet. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, über eine Deskription hinauszugehen und auf Konzepte (theoretische Abstraktionen) hinzuarbeiten. Dies geschieht u. a. durch systematisch theoriegenerierende „W-Fragen“, die an das Material herangetragen werden:
Die Kodes bzw. Konzepte (die Begriffsverwendung ist in der Literatur nicht immer einheitlich) werden zu Kategorien gebündelt und durch die Herausarbeitung von Eigenschaften, Dimensionen und/oder Unterkategorien weiterentwickelt.
Das offene Kodieren geht über in die Phase des axialen Kodierens. Hier kann das Kodierparadigma bzw. das paradigmatische Modell dem Forschungsprozess als Orientierungshilfe dienen, um die Kategorien weiterzuentwickeln und ihre Beziehungen zueinander herausarbeiten. Unterschieden wird zwischen Kontext, ursächlichen sowie intervenierenden Bedingungen, Strategien und Konsequenzen, die mit Blick auf das Phänomen der Studie in ein relationales Gefüge gebracht werden. Die explizite Herausarbeitung von Kontext und Bedingungen ermöglicht es, Handlungen bzw. Unterlassungen, Strategien, Routinen und deren Konsequenzen in ihren jeweiligen sozialen Rahmungen kenntlich zu machen.
In der abschließenden Phase des selektiven Kodierens werden die Kategorien weiter verdichtet, durch die Herausarbeitung einer Kernkategorie in ein Kategoriennetz integriert und als gegenstandsgegründete Theorie ausformuliert.
Die Grounded-Theorie-Methodologie ist ein vergleichsweise häufig angewendetes Verfahren in der qualitativen Sozialforschung, da sie eine größtmögliche Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand mit regelgeleiteter Theoriebildung verbindet. Die Erarbeitung einer Grounded Theory ist jedoch ein sehr zeitaufwendiges Unterfangen, das trotz gegebener methodischer Orientierungen ein hohes Maß an Eigenstrukturierung von den Forschenden verlangt. Zudem wird die Generierung einer Grounded Theory bei weitem nicht in allen Forschungsvorhaben geleistet, die sich methodische Einzelschritte dieser Methodologie zu Nutze machen.
Ursprünglich im Kontext von ethnografischer Forschung entwickelt – und damit auch unter Verwendung von Beobachtungsdaten – wurde die Grounded-Theory-Methodologie dann über lange Zeit insbesondere zur Auswertung von Interviewmaterial genutzt. Mittlerweile wird die Berücksichtigung unterschiedlicher Datensorten wieder stärker diskutiert bzw. praktiziert. So finden sich jüngst auch erste Vorschläge, die Grounded-Theory-Methodologie für die Analyse von Bildern[11] und Filmen[12] einzusetzen.
Glaser, Barney & Strauss, Anselm (2008). Grounded Theory: Strategien qualitativer Forschung (Nachdruck der 2., korr. Auflage). Bern: Huber (Orig. 1967).
Strauss, Anselm & Corbin, Juliet (1996). Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
Mey, Günter & Mruck, Katja (2009). Methodologie und Methodik der Grounded Theory. In Wilhelm Kempf & Marcus Kiefer (Hrsg.), Forschungsmethoden der Psychologie. Zwischen naturwissenschaftlichem Experiment und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik. Band 3 (S. 100–152). Berlin: Regener.
Breuer, Franz; Muckel, Petra & Dieris, Barbara (2018). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis (4. Auflage). Wiesbaden: Springer VS, Homepage zum Buch: https://reflexivegroundedtheory.wordpress.com/.
Bryant, Antony & Charmaz, Kathy (Hrsg.) (2010). The Sage Handbook of Grounded Theory. London u. a.: SAGE.
Equit, Claudia & Hohage, Christoph (Hrsg.) (2016). Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis. Weinheim: Beltz Verlag.
Mey, Günter & Mruck, Katja (Hrsg.) (2011). Grounded Theory Reader (2., überarb. u. erweiterte Auflage). Wiesbaden: VS.
Dieris, Barbara (2006). „Och Mutter, was ist aus dir geworden?!“ Eine Grounded-Theory-Studie über die Neupositionierung in der Beziehung zwischen alternden Eltern und ihren erwachsenen, sich kümmernden Kindern [52 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7 (3), Art. 25. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0603253.
Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1965). Awareness of Dying. Chicago: Aldine.
Muckel, Petra (1997). Der Alltag mit Akten – Psychologische Rekonstruktionen bürokratischer Phänomene. Eine empirische Untersuchung in verschiedenen Institutionen auf der Grundlage der Grounded Theory. Aachen: Shaker, https://reflexivegroundedtheory.wordpress.com/empirische-arbeiten/.
Ausgewählte Bachelorarbeiten im Fach Psychologie: https://reflexivegroundedtheory.wordpress.com/bachelor-arbeiten-im-fach-psychologie/
Ausgewählte Diplom- und Masterarbeiten im Fach Psychologie: https://reflexivegroundedtheory.wordpress.com/diplom-und-master-arbeiten-im-fach-psychologie/
[1] Glaser, Barney & Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine
[2] Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1965). Awareness of Dying. Chicago: Aldine.
[3] Glaser, Barney G. (1978). Theoretical Sensitivity: Advances in the Methodology of Grounded Theory. Mill Valley, CA: Sociology Press.
[4] Strauss, Anselm L. (1987). Qualitative Analysis for Social Scientists. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.
[5] Charmaz, Kathy (2006). Constructing Grounded Theory: A Practical Guide Through Qualitative Analysis. London u.a.: Sage.
[6] Clarke, Adele (2005). Situational Analysis: Grounded Theory After the Postmodern Turn. London u. a.: SAGE.
[7] Ruppel, Paul S. & Mey, Günter (2017). Grounded Theory Methodology. In Roxanne Parrott (Hrsg.), The Oxford Encyclopedia of Health and Risk Message Design and Processing (Oxford Research Encyclopedia of Communication). New York: Oxford University Press. DOI: http://dx.doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.522.
[8] Mey, Günter & Mruck, Katja (2010). Grounded-Theory-Methodologie. In Günter Mey & Katja Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 614–626). Wiesbaden: VS.
[9] Strauss, Anselm L. & Corbin, Juliet (1996). Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
[10] Mühlmeyer-Mentzel, Agnes & Schürmann, Ingeborg (2011). Softwareintegrierte Lehre der Grounded-Theory-Methodologie [156 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(3), Art. 17 http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1103171.
[11] Mey, Günter & Dietrich, Marc (2016). Vom Text zum Bild – Überlegungen zu einer visuellen Grounded-Theory-Methodologie. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 17(2), Art. 2, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs160225.
[12] Dietrich, Marc & Mey, Günter (2018). Grounding visuals. Annotationen zur Analyse audiovisueller Daten mit der Grounded-Theory-Methodologie. In Christine Moritz & Michael Corsten (Hrsg.), Handbuch Qualitative Videoanalyse (S. 135–152) Wiesbaden: Springer VS.