2. Warum der erste Entwurf nicht bei null beginnt
Der Einstieg in den Erstentwurf erscheint manchen Schreibenden als die entscheidende Wegmarke im Arbeitsprozess. Für die einen ist bis dahin der für sie wichtigere und interessantere Teil der Arbeit schon geleistet – die Interviews oder die Versuche sind ja bereits durchgeführt –, für andere wird es erst ab hier richtig ernst.
Aber ist die Grenze zwischen Noch-nicht-Schreiben und dem Erstentwurf so strikt? Schauen Sie zurück: Haben Sie bis hierhin nicht schon geschrieben? Haben Sie vielleicht Stichwortlisten oder Mind-Maps angelegt? Haben Sie ein Exposee geschrieben, Exzerpte zu wichtigen Quellen angefertigt, Kommentare zu Versuchen oder Interviews formuliert? Haben Sie Gedanken in einem Arbeitsjournal notiert, ein Referat zu Ihrem Thema im Seminar gehalten oder Ausschnitte aus Ihrem Promotionsprojekt in einem Kolloquium oder auf einer Konferenz präsentiert?
Alle diese Texte, Notate oder Visualisierungen stellen ein Reservoir an „Vor-Texten“ dar, auf die Sie beim Verfassen des Erstentwurfs zurückgreifen können. Insofern ist der Erstentwurf – anders als häufig angenommen – keineswegs der Moment, an dem zum ersten Mal „richtig“ geschrieben wird. Der Erstentwurf beginnt nicht bei null, sondern führt auf anderer Ebene weiter, was Sie bis dahin bereits geschrieben haben.
3. Warum der erste Entwurf nicht perfekt sein muss
Kennen Sie das? Sie schreiben einen Satz. Sie lesen diesen Satz. Sie löschen diesen Satz. Sie überlegen. Sie schreiben einen neuen Satz. Sie schreiben einen zweiten Satz. Sie überlegen. Sie fügen etwas zwischen den beiden Sätzen ein. Jetzt stimmt aber der erste Satz nicht mehr ganz. Sie überlegen. Sie löschen den hinteren Teil des ersten Satzes. Und so weiter ...
Was passiert bei dieser Arbeitsweise und warum kann sie manchmal so anstrengend sein? Ganz einfach: Es wird um jeden einzelnen Satz gerungen. Die Grundhaltung dabei lautet: „Wenn ich schon schreibe, dann mache ich es gleich richtig und ordentlich, dann habe ich später weniger Überarbeitungsaufwand.“ Die Folge: Die Überarbeitung wird mit dem Erstentwurf vermischt. So kommt es bei nahezu jedem Satz zu einem permanenten Modus Wechsel zwischen Produktion und Revision: Ich schreibe einen Satz und ich überarbeite ihn. Das ist anspruchsvoll und oft auch anstrengend.
Trennen Sie daher bewusst zwischen Erstentwurf und Überarbeitung.
Haben Sie Mut zu einem „shitty first draft“ 1 , einem schäbigen, rohen, hässlichen Erstentwurf. Denn es ist nicht die Aufgabe des Erstentwurfs, wohlgestaltet, korrekt und fertig zu sein. Oder um es mit Howard S. Becker zu sagen: Nicht auf die erste Fassung, sondern auf die letzte kommt es an. 2
Wenn jeder Satz möglichst auf Anhieb sitzen soll, dann belasten Sie jeden Satz mit dem Gewicht einer komplexen Entscheidungsaufgabe. Denn Sie müssen dann bei jedem Satz entscheiden, ob
- sein Inhalt richtig ist,
- er an der richtigen Stelle steht,
- er richtig mit dem verknüpft ist, was davor steht,
- er richtig zu dem hinführt, was Sie danach schreiben wollen,
- er richtig und wissenschaftlich klingt,
- er verständlich ist,
- er korrekt geschrieben ist.
Sobald Sie auf einer dieser Ebenen unsicher sind, besteht die Gefahr, dass Sie den ganzen Satz in Frage stellen. Der Schreib- und Gedankenfluss wird unterbrochen.
Die Alternative besteht darin, den Erstentwurf zu entlasten und sich nur auf eine einzige Frage zu konzentrieren: Was soll in meinem Text stehen? Wie es in dem Text stehen muss – das erarbeiten Sie dann in der Überarbeitung.
4. Tipps zum Einstieg in den Erstentwurf
- Schreiben Sie in Ihrem Erstentwurf voran, arbeiten Sie nicht zurück, und lassen Sie Sätze, die noch nicht richtig klingen, einfach stehen.
- Markieren Sie eventuelle Unsicherheiten im Text mit Zeichen, zum Beispiel mit [??]. Dann sehen Sie bei der Überarbeitung gleich, dass Sie diese Stelle noch überprüfen müssen.
- Wenn Ihnen ein Begriff nicht gleich einfällt, setzen Sie im Erstentwurf einen Platzhalter ein und markieren Sie ihn als solchen.
- Oder schreiben Sie erst einmal eine bestimmte Anzahl Zeichen oder Wörter (zum Beispiel 1.500 Zeichen oder 250 Wörter), bevor Sie sich erlauben, das Geschriebene zu lesen.
- Für ganz Mutige gibt es eine radikale Variante: Stellen Sie die Schriftfarbe auf Weiß vor weißem Hintergrund. Dann können Sie nicht lesen und überarbeiten, sondern nur schreiben. Erst am Ende einer gedanklichen Einheit stellen Sie dann das Geschriebene zurück auf Schwarz.
Natürlich klingt ein auf diese Weise geschriebener Erstentwurf nicht so, wie all die Texte, die Sie für Ihre Arbeit gelesen haben. Aber bedenken Sie: Gelesen haben Sie jeweils redigierte und lektorierte Endfassungen von Texten, deren Erstfassungen wir nie zu Gesicht bekommen. Für Ihren Erstentwurf sind diese Texte jedoch nur inhaltlich eine Referenz, keinesfalls muss sich Ihr Erstentwurf sprachlich-stilistisch an diesen Endfassungen messen. An Sprache und Stil können Sie getrost in der Überarbeitung feilen.
5. Vortexte, Erstentwurf und Überarbeitung
Die folgende Tabelle zeigt das Verhältnis von Vortexten, Erstentwurf und Überarbeitung in einer Übersicht:
Vortexte
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Erstentwurf |
Überarbeitung |
---|
- Exposé
- Exzerpte
- Kommentare (z. B. zu Messprotokollen)
- Stichpunktlisten
- Notizen
- Mind-Maps
- Gesprächsprotokolle
- Präsentationen
- Veröffentlichungen
- Eintragungen im Arbeitsjournal
- ...
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(Leitfrage: Was muss im Text stehen?)
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- Inhalt
- Struktur
- Sprache / Stil
- Rechtschreibung / Grammatik
- Formales / Layout
(Leitfrage: Wie muss es im Text stehen?)
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6. Fazit
- Der Einstieg in den Erstentwurf wird umso leichter, je mehr Sie auch schon alle vorangehenden Tätigkeiten wie Lesen, Daten erheben oder Nachdenken schreibend begleiten.
- Konzentrieren Sie sich bei Ihrem Erstentwurf darauf, Inhalt zu generieren.
- Bleiben Sie beim Erstentwurf im Schreibmodus und verschieben Sie die Überarbeitung auf spätere Durchgänge.
1 Anne Lamott (1995): Bird by Bird. Some Instructions on Writing and Life. Anchor Books. A Divison of Random House, New York. Darin: „Shitty First Drafts“, S. 21 ff., wo es heißt: „All good writers write them. This is how they end up with good second drafts and terrific third drafts.“
2 Nach Howard S. Becker (2000): Die Kunst des professionellen Schreibens. 2. Auflage. Campus Verlag, Frankfurt/M., S. 28.