Ein Praxisbeispiel von Tilman: Ein Doktorand, der seinen überhöhten Anspruch an seine Diss erkennt und endlich abgeben kann.
Nächstes Jahr wollte er sie endlich abgeben, seine Diss. Spätestens im April, das müsste zu schaffen sein. Das hatte sich Tilman im vergangenen September vorgenommen. Jetzt war es Januar. Noch drei Monate bis April. Begonnen hatte er die Arbeit vor fünf Jahren, seine empirischen Versuche hatte er vorletztes Jahr abgeschlossen. Er war stolz, dass diese Ergebnisse in die Entwicklung eines aktuellen Projekts seines Instituts eingeflossen waren, an dem er mitarbeitete. Inzwischen wusste er, dass er einiges hätte anders machen können. Nun ja. Ob er die ganze Überarbeitung der Doktorarbeit bis April wirklich schaffen würde?
Momentan arbeitete er überhaupt nicht an der Diss, obwohl er dafür eine halbe Stelle finanziert bekam. Er hatte vielfältige Aufgaben am Institut, plante weitere Projekte, musste Anträge stellen, um Drittmittel werben. Zudem betreute er auch noch mehrere Bachelor-Arbeiten … Zum Schreiben war er zuletzt gekommen, als er wegen einer Fußverstauchung eine Woche zu Hause war. Diese Woche hatte er genutzt, um am Schreibtisch zu sitzen. Er hatte die Doktorarbeit geordnet, um die einzelnen Teile besser bearbeiten zu können. Er wollte nicht langweilig schreiben, vielmehr die Spannungen darstellen, die das Projekt mit sich gebracht hatte. Die Arbeit sollte nicht öde werden. Aber jetzt stagnierte er wieder. Was bremste ihn bloß so aus?
Tilman nahm sich ein Herz und sprach seine Kollegin Henriette an. Im Gespräch mit ihr wurde ihm deutlich, dass er sich schlecht von der Vergangenheit abkoppeln, die Ergebnisse der Dissertation nicht separat von seinem jetzigen Projekt betrachten konnte. Diese hatte er inzwischen weiter ausgebaut und qualitativ verbessern können. Daher fiel es ihm schwer, die Ergebnisse der Dissertation zu akzeptieren; sie kamen ihm falsch oder zumindest nicht vollständig und nicht mehr aktuell vor. „Vollständigkeit ist relativ. Für deine Dissertation sind die Ergebnisse relevant, die du in deinem dort definierten Forschungsdesign gewonnen hast. Zudem hast du mit den Ergebnissen die Grundlage für dein derzeitiges Projekt gelegt. Ohne diese wärst du jetzt nicht da, wo du bist. Sie sind wichtig und haben absolut ihre Daseinsberechtigung.“, wusste Henriette.
Nachdenklich ging Tilman aus diesem Gespräch. Die Erleichterung kam unerwartet schon zwei Tage später. Ihm war jetzt klar, dass er kleinere Brötchen backen würde und die Ergebnisse seiner Dissertation in Ordnung waren. Die Enge in seiner Brust löste sich. Es juckte ihn regelrecht in den Fingern: Er verlegte Prioritäten, stimmte sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen ab und schrieb. Die Neuordnung seiner Teile stellte sich als geeignet heraus, so dass er schnell vorankam.
Er arbeitete konzentriert und routiniert. Ende März nahm er sich zwei Wochen Schreib-Urlaub. Im Ferienhaus seiner Tante Marion auf dem Darß hatte er Ruhe, Luft und Licht zur Überarbeitung seines Werks. Kraft und neue Energie tankte er bei Spaziergängen auf dem Deich und am Strand. Sein Zeitplan stimmte. Mit seiner für letzte kleine Korrekturen fertigen Dissertation kehrte er zurück. Er hatte es tatsächlich geschafft – der Frühling konnte kommen.