Das problemzentrierte Interview

Prof. Dr. Günter Mey, Rubina Vock & Paul Sebastian Ruppel

Das problemzentrierte Interview dient der Erfassung von subjektiven Wahrnehmungen und Problemsichten sowie Darstellungen individueller Handlungen. In einem dialogisch-diskursiven Prozess werden die Befragten als ExpertInnen der eigenen Orientierungen und Handlungen verstanden, die im Gespräch die Möglichkeit haben, eigene wie auch Aussagen der Interviewenden explizit zu klären und nötigenfalls zu korrigieren[1].

1. Programmatik

Das problemzentrierte Interview wurde von Andreas Witzel in den 1980er Jahren entwickelt[2]. Es orientiert sich an zentralen Prinzipien qualitativer Forschung, die unter den Stichworten „Problemzentrierung“ (Konzentration auf ein Problem/Thema), „Gegenstandsorientierung“ (Wahl dem Gegenstand angemessener Methoden) und „Prozessorientierung“ (z. B. dialogische Entwicklung) diskutiert werden. Durch ein deduktiv-induktives Wechselspiel bei der Datenerhebung will das problemzentrierte Interview der Herausforderung begegnen, ein offenes mit einem theoriegeleiteten Vorgehen zu verbinden. Es soll den Befragten durch Anregung zu Erzählsequenzen die Möglichkeit bieten, ihre Perspektiven darzustellen bzw. zu entfalten. Dabei orientiert sich das problemzentrierte Interview an kommunikationswissenschaftlichen und gesprächspsychologischen Überlegungen[3].

 

2. Aufbau und Ablauf

Das problemzentrierte Interview, bei dem auf einen Leitfaden zurückgegriffen wird, gliedert sich in vier Teile: Gesprächseröffnung, allgemeine Sondierungen, spezifische Sondierungen und Ad-hoc-Fragen. Jedem dieser Teile lassen sich sogenannte material- und verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien zuordnen. Vor oder nach dem problemzentrierten Interview kann ein Kurzfragebogen eingesetzt werden, um für die jeweilige Studie soziodemografische und/oder andere relevante Daten zu erheben.

2.1 Gesprächseröffnung

Zu Beginn des problemzentrierten Interviews steht eine materialgenerierende Einstiegsfrage. Sie muss nicht explizit auf die Textsorte Erzählung abzielen, vielmehr wird die formale und inhaltliche Ausgestaltung den Interviewten überlassen. Die Einstiegsfrage könnte, hier exemplarisch als Erzählaufforderung formuliert, z. B. folgendermaßen lauten: „Du möchtest (KFZ-Mechaniker, Friseuse etc.) werden. Erzähl doch mal, wie Du darauf gekommen bist!“. Damit soll den Befragten die Möglichkeit geboten werden, das Interviewgespräch zunächst vergleichsweise offen (mit) zu entwickeln, ohne dass bereits ein engerer Problemfokus vorgegeben wird.

2.2 Allgemeine Sondierungen

Im Anschluss an die Gesprächseröffnung folgen detailfördernde Nachfragen, die helfen sollen, die subjektiven Perspektiven der Interviewten auf das betreffende Thema bzw. den jeweiligen Problemkreis weiter herauszuarbeiten. Ziel des problemzentrierten Interviews ist hier, fehlende Informationen zu erlangen und auch auf Aussparungen und Verzerrungen einzugehen. Als Techniken werden Fragen vorgeschlagen, die eine Detaillierung unmittelbar einfordern, z. B. „Was war dann genau?“, „Wie war das im Einzelnen?“. Detailfördernde Nachfragen im problemzentrierten Interview sollen den Befragten beim Erinnern von Ereignissen und bei der Strukturierung der Thematik helfen. Zwar werden in der Anfangsphase idealtypisch vornehmlich materialgenerierende Fragen gestellt, die längere bzw. erzählerische Darstellungsformen begünstigen, dennoch kann es bereits in dieser frühen Phase des problemzentrierten Interviews sinnvoll sein, mittels Fragen den Problemkontext einzukreisen. Hierbei wird das problemzentrierte Interview um verständnisgenerierende Fragen ergänzt, die helfen können, sich noch unscharf abzeichnende Problemfelder zu beleuchten und Konflikte oder Widersprüche im Dialog zu klären.

2.3 Spezifische Sondierungen

Im Unterschied zu den allgemeinen Sondierungen wird mittels der spezifischen Sondierungen das bisher im Interview Gesagte diskursiv aufeinander bezogen. Dabei gilt es, Erzähltes oder auch erst bruchstückhaft Dargestelltes im Detail weiter nachzuvollziehen, miteinander in Verbindung zu setzen und so weiter zu klären. Erste sich hieraus ergebende Interpretationsversuche der Interviewenden können dann zur Diskussion gestellt werden. Es lassen sich drei Formen spezifischer Sondierung unterscheiden:

Zurückspiegelung

Bei der Zurückspiegelung fassen die Interviewenden die Äußerungen der Befragten im Sinne einer „Bilanzierung“ zusammen, um diese dann bestätigen, ergänzen bzw. korrigieren zu lassen.

Verständnisfragen

Verständnisfragen dienen dazu, implizite, ausweichende oder sich widersprechende Antworten aufzuzeigen oder Stereotype deutlich zu machen.

Konfrontation

Bei der Konfrontation werden die Interviewten ähnlich wie bei den Verständnisfragen aufgefordert, deutlichere Erklärungen oder Begründungen ihrer Sichtweisen darzulegen. Dazu werden sie mit im Interview geäußerten widersprüchlichen Aussagen konfrontiert bzw. aufgefordert, (scheinbare) Widersprüche, die als Alltagsselbstverständlichkeiten meist nicht hinterfragt werden, zu thematisieren.

Wichtig ist, dass die spezifischen Sondierungen in den Kontext der Interviewsituation integriert sind. Dies bedeutet für Interviewende zum einen, für eine gute Gesprächsatmosphäre zu sorgen, diese aufrechtzuerhalten und stets das inhaltliche Interesse deutlich zu machen. Zum anderen müssen sie sich dessen bewusst sein, dass nicht alle Diskrepanzen auflösbar sind, da sie durchaus Ausdruck historisch gewachsener bzw. bestehender sozialer Widersprüche sein können.

2.4 Ad-hoc-Fragen

Dies ist eine etwas irreführende Bezeichnung, da es sich hier um vorab erarbeitete und im Leitfaden festgehaltene Fragen handelt, also keineswegs um die Äußerung spontanen Interesses. Ad-hoc-Fragen werden vornehmlich zum Ende des problemzentrierten Interviews gestellt. Zu diesem Typus zählen all jene Fragen, die für die Untersuchung zentral erscheinen, aber erst später im Interviewverlauf Eingang finden, um die Kommunikationssituation nicht unnötig zu (zer)stören. Eine weitere Funktion der Ad-hoc-Fragen ist es, Vergleichbarkeit zwischen Interviews herzustellen.

 

3. Bedeutung und Anwendung

In der praktischen Anwendung ist das problemzentrierte Interview kein starres Vorgehen, sondern prozessorientiert. So können je nach Fragestellung weitere als die oben genannten Frageformen ad hoc im Interview gestellt und in den Leitfaden aufgenommen werden, bspw. hypothetische Fragen („Einmal angenommen, es wäre ..., was wäre dann anders?“). Des Weiteren ist je nach Forschungsfrage zu entscheiden, ob die Fragen stärker Erzählungen, Sachverhaltsdarstellungen, Darlegungen von Wünschen oder Zukunftsentwürfen etc. generieren sollen.

Das problemzentrierte Interview ist eines der am häufigsten angewandten Interviewverfahren. Dies liegt möglicherweise daran, dass es zum einen ein strukturiertes Vorgehen aufweist, zum anderen aber auch eine große Offenheit zulässt. Dabei erfordert das problemzentrierte Interview idealiter psychologische Kenntnisse über Gesprächsführung (insbesondere aktives Zuhören wie auch spezifische Formen der Rückspieglung) sowie eine gleichschwebende Aufmerksamkeit in der Interviewsituation.

 

Literatur

Zentrale Veröffentlichung

Witzel, Andreas (1985). Das problemzentrierte Interview. In Gerd Jüttemann (Hrsg.), Qualitative Forschung in der Psychologie: Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder (S. 227–255). Weinheim: Beltz, https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/563.

Übersichtsdarstellungen

Mey, Günter & Mruck, Katja (2011). Qualitative Interviews. In Gabriele Naderer & Eva Balzer (Hrsg.), Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis. Grundlagen, Methoden und Anwendungen (2., überarbeite Auflage, S. 257–288). Wiesbaden: Gabler.

Vertiefende Lektüre

Witzel, Andreas & Reiter, Herwig (2012). The Problem-Centred Interview. Principles and Practice. London: SAGE.

Beispiele

Chiapparini, Emanuela (2012). Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersuchung der Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Zürcher Volksschule. Opladen: Budrich UniPress.

Mey, Günter (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählungen. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Köster, https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/3918.

Schmidt-Grunert, Marianne (Hrsg.) (1999). Sozialarbeitsforschung konkret. Problemzentrierte Interviews als qualitative Erhebungsmethode. Freiburg: Lambertus.

 

Weiterlesen: Gruppendiskussion

 


[1] Mey, Günter (2000). Erzählungen in qualitativen Interviews: Konzepte, Probleme, soziale Konstruktionen. Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, 1, 135–151,  https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/447.

[2] Witzel, Andreas (1982). Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt/New York: Campus.

[3] Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1 (1), Art. 22, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132.

 

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